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Dort in der Nähe des Harzgebirges ragt des Ewigen Tempelberg hervor,
genannt: בקעי יהלא חיב
[beth jacob] Haus Jacobs.
Gotthold Salomon

So wird die Seesener Synagoge in einer Traueransprache auf Israel Jacobson knapp zwanzig Jahre nach ihrer Einweihung beschrieben. Diese Synagoge ist Tempel, auch wenn Seesen nicht Jerusalem ist. Der damalige Prediger zeichnet ein Bild, das auch dem Stifter Israel Jacobson vor Augen gestanden hat: Der Jacobstempel sollte als kleines, schwaches Nachbilde des Salomonischen Tempels bestehen. Er wurde damit zum steinernen Zeugnis für Jacobsons Hoffnung auf ein Ende der jahrhundertealten Geschichte der jüdischen Diaspora.

Europas Gesellschaften befanden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Übergang vom Feudalismus zum Bürgertum. Mit der französischen Expansion erlangte mit dem Code Napoleon auch die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden Geltung, und dies nirgendwo so konsequent, wie im neugebildeten „Musterstaat“, dem Königreich Westfalen, zu dem Seesen in der Zeit des Tempelbaus gehört.

Dieses Recht schaffte den hier lebenden Juden ein Vaterland, einen Staat, wie Jacobson sagt, der uns nicht mehr wie verirrte Schaafe auf Europens weiten Fluren umherirren lässt. Aus dem Recht leitete der Stifter für sich und seine Glaubensgenossen aber auch die Verpflichtung ab, sich der bürgerlichen Vernunft – als Grundlage aller Emanzipation – und ihrer Anforderungen wert zu erweisen. Moses Mendelssohn hatte noch einige Jahrzehnte zuvor über die Rechtelosigkeit der Juden geklagt: Sie binden uns die Hände und werfen uns vor, dass wir sie nicht gebrauchen. Nun, mit freien Händen, galt es zu gestalten.

Israel Jacobson (1768-1828) war ein Gestalter. Zunächst Kammeragent des Herzogs von Baunschweig und später Präsident des Israelitischen Konsistoriums am westfälischen Hof in Kassel, war der so erfolgreiche Mann in seinen An- und Einsichten beeinflusst von den aufklärerischen Schriften Mendelssohns und Lessings. Er erkannte aus Studium und praktischer Anschauung als Landrabbiner, dass mit der äußeren und rechtlichen Gleichstellung auch eine innere, sittlich-erzieherische Reform einhergehen musste.

Die Gründung der Seesener Jacobsonschule als Industrie- und Religionsschule im Jahr 1801 war aus dieser Einsicht abgeleitet: Mein Wunsch war daher schon lange, nach meinen Kräften etwas dazu beizutragen, die Jugend der Juden auf dem Lande zu besseren sittlichen Menschen zu bilden und sie solcher gestalt dem Staate, in dem sie wohnen, nützlicher zu machen. Aus der Praxis des Schulbetriebs entwickelte sich noch mehr: Die simultane Erziehung von jüdischen und christlichen Kindern. Durch Nähe und alltägliche Gemeinschaft von klein auf wurden so die Grundsätze der Toleranz in natürlicher Weise den Zöglingen vermittelt. Die Kinder begegneten sich auf Augenhöhe, wie Brüder, ohne dass angestrebt wurde, die Unterschiede der Religionen aufzuheben.

Nicht weniger, aber auch nicht mehr, bedeutete der über das Nordportal des Jacobstempels gesetzte Spruch aus Maleachus 2, 10: Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Eintracht zwischen den Religionen, auch Annäherung, aber nicht die volle religiöse Gemeinschaft der Partheien war Jacobsons erklärtes Ziel. Zweifelnden Kritikern unter seinen Glaubensgenossen entgegnete er: Fern sey es, dass ich mich selbst an der Religion wie an Euch zum Verräther [mache]. Für orthodoxe Kreise war eine Annäherung, wie Jacobson sie betrieb, allerdings bereits Verrat genug.

Schon seit den ersten Jahren des Bestehens der Jacobsonschule war auch der Bau einer Schulsynagoge, eines Tempels, geplant. In seiner architektonischen Gestalt war er einzigartig, auch ohne Vorbild bei bestehenden Synagogen. Turm mit Uhr und Glockenschlagwerk verliehen dem Tempel eine christlich-kirchliche Anmutung, - äußerliche Annäherungen an das Lebensumfeld und selbstbewusster Ausdruck der Gleichberechtigung. Im Jahr 1805 wurde wohl der Grundstein gelegt, schon 1807 gibt es Berichte über eine Fertigstellung. Es fehlte vermutlich noch die mit eingeplante Orgel.

Denn erst am 17. Juli 1810 fand die weltberühmte Einweihungsfeier dieses Gotteshauses statt. Eine Weltgeltung sprach der damalige Schulleiter, Benedikt Schott, diesem Ereignis zu. Das ist nicht übertrieben, weiß man um die Einmaligkeit dieser Feststunde, die ein zeitgenössischer Berichterstatter so schilderte: Das Fest war originell und einzig in seiner Art. Wo hat es wohl ehedem einen ähnlichen solchen Tag gegeben, an welchem Christen und Israeliten einen gemeinschaftlichen Gottesdienst, in Gegenwart von mehr als vierzig Geistlichen beider Religionen, miteinander feierten. Nur der Toleranz unserer Tage ist es aufbehalten gewesen, alles dieses zu bewirken. Wiederum Zeichen der Annäherung, der Begegnung der Religionen auf Augenhöhe.

Entscheidender für die historische Bedeutung dieser Stunde ist die Wirkung, die von der Gestaltung des Gottesdienstes ausging. Erstmals erklang Orgelmusik, und es wurden Choralgesänge in deutscher Sprache angestimmt, wodurch wiederum Männer und Frauen im Gottesdienst zusammengeführt wurden. Auch die Predigt in deutscher Sprache wurde - zu diesem Anlass von Jacobson persönlich gehalten - eingeführt. Diese zentralen Elemente der Reformation des jüdischen Gottesdienstes fanden in der Folge Eingang in die Synagogen und Tempel anderer Städte in Deutschland und darüber hinaus weltweit. Der Jacobstempel in Seesen wurde an jenem 17. Juli zur Geburtsstätte des reformierten, liberalen Judentums und zum Symbol für die Hoffnung auf eine Bruderschaft aller Menschen, gleich welchen Glaubens.

Dieser Hoffnungsgedanke, der mit der Einweihung des Tempels fast schon musterhaft zelebriert wurde, ging mit dessen Zerstörung in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zunächst mit unter. Heute erinnern ein Gedenkstein sowie in den Boden eingelassene Eckplatten auf dem Jacobsonplatz in Seesen an den Standort des Tempelbaus und seine Zerstörung. Mögen diese Erinnerungsmale auch den guten Anfang und das Jacobsonsche Hoffungswerk in unserem Bewusstsein wachrufen und neu verankern!

Dirk Stroschein