Bürgerhaus Seesen - Die Geschichte der Jacobsonschule
Schulgeschichte
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts löste mit ihren Vorstellungen von Vernunft, Humanität und religiöser Toleranz Bemühungen zur Gleichstellung auch der Juden aus. Neben der Gesetzgebung galt den Aufklärern die Erziehung als ein Weg zur Verbesserung der Lage der Juden.
Ein Stundenplan aus den Anfangsjahren der Schule
Obwohl Bildung bei den Juden äußerst hoch bewertet wurde, war die Schulsituation jüdischer Kinder vor allem in Kleinstädten und auf dem Land trostlos. Sie durften die christlichen Schulen nicht besuchen. Kleinere Gemeinden konnten nur selten ausgebildete Lehrer bezahlen, so dass die Kinder nur das Lesen und Schreiben des Hebräischen anhand von religiösen Schriften erlernten. Die Umgangssprache war Jiddisch, nur wenige Juden sprachen mehr als einige Worte Hochdeutsch. Jacobson beabsichtigte daher, die Lebensverhältnisse jüdischer Kinder durch eine gründlichere Ausbildung langfristig zu verbessern.
Die "Fingerparade" der Hausmutter um 1900
Mit der Gründung der Seesener Anstalt setzte er zwei Ideen seiner Zeit um: 1783 war Christian von Dohms Schrift zur Hebung der sozialen Lage der Juden unter anderem durch moderne Bildung erschienen. 1797 hatte der Pädagoge Joachim Heinrich Campe dem Herzog von Braunschweig eine Reform des Volksschulen und ihre Umwandlung zu „Industrieschulen" vorgeschlagen, in denen neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch handwerkliche Arbeiten gelehrt werden sollten. Die praktische Vorbereitung auf Berufe in Handwerk und Landwirtschaft in der Seesener Schule sollte die überlieferte Begrenzung der Juden auf Geld- und Handelsberufe aufbrechen.
Der Schulbetrieb begann am 29.9.1801. Zu den ersten 12 Freizöglingen, die unentgeltlich unterrichtet wurden, kamen sogenannte „Kostgänger" als zahlende Schüler aus der Stadt.
Ab 1802 besuchten die ersten beiden christlichen Kinder die Schule. Entgegen der ursprünglichen Absicht des Stifters entwickelte sich die Anstalt schon in den ersten Jahren von einer Industrie- zu einer allgemeinbildenden Schule.
Speisesaal vor 1919
Infolge ständig steigender Ansprüche an die Schulbildung wurden die Lehrpläne mehrmals an die des fortschrittlichen Staates Preußen angepasst. Aus der Volks- wurde die Bürger- und 1862 die Realschule. Auf Drängen von Seesenern und Eltern der Internatsschüler wurde die Schule 1903 zum Realprogymnasium, das den Übergang zu einer bis zum Abitur führenden Schule erlaubte. Nach der Verstaatlichung 1922 verpflichtete sich die Stadt nach langen Verhandlungen die Mehrkosten zu tragen, die durch Einrichtung einer Oberstufe entstanden, so dass 1926 die ersten drei Schüler in Seesen das Abitur ablegen konnten.
Turnunterricht auf dem Schulhof vor dem Eingang zur Synagoge um 1900
Handfertigkeitsunterricht um 1905
Werkunterricht um 1934
Das Brausebad der Schule um 1934
Nach der Übernahme der Regierung durch die Nationalsozialisten 1933 wurden der Direktor und ein Studienrat in den Ruhestand versetzt, zwei weitere Lehrer entlassen. Neuer Direktor wurde ein Mitglied der SA. Die Schüler wurden in den folgenden Jahren im Unterricht „nationalsozialistisch ausgerichtet". 1945 schloss die Schule. Im Alumnat wohnten verschleppte Personen, vor allem Polen. Die Einrichtung und die Sammlungen der Schule gingen zum Teil verloren.
Am 12.12.1945 begann zuerst in wenigen Räumen wieder der Unterricht. Das Wohnheim bestand noch von 1953 bis 1955 und wurde dann aufgelöst. Seit August 1972 wird im neugebauten Schulzentrum in der St.-Annen-Straße unterrichtet. 1974 wurde die Sekundarstufe II eingerichtet. Ein kurzes Gastspiel im Schulzentrum gab es für die Orientierungsstufe. Sie wurde 1974 eingeführt und 2004 wieder abgeschafft.
Aus der Stiftung Jacobsons für arme Judenkinder entstand eine Stadtschule für Seesen. Bis zur Verstaatlichung 1922 besuchten insgesamt 5829 Kinder die Anstalt, davon 2414 Stadt- und 3415 Internatsschüler. Von 1923 bis zur Schließung des Internats kam die Mehrzahl der Schüler aus der Stadt, nur wenige wohnten im Alumnat. Das Verhältnis von jüdischen zu christlichen Schülern hatte sich schon 1919 umgekehrt: nur noch ein drittel der Schüler waren Juden. Ihre Zahl sank ständig, bis 1937 die letzten sechs jüdischen Schüler nach wiederholten Ausschreitungen seitens der Mitschüler das Institut verlassen mussten.
Das Ziel Jacobsons, jüdischen Bürgern Berufe in Landwirtschaft und Handwerk zugänglich zu machen, scheiterte in Seesen am Widerstand des Magistrats und an der Weigerung der Zünfte, Juden als Handwerksgesellen aufzunehmen.
Die Schulleitung verfolgte die ursprüngliche Absicht Jacobsons weiter und legte besonderen Wert auf die handwerkliche, künstlerische und musische Betätigung der Schüler. Mit Handfertigkeitsunterricht, freiwilligen Bastel- und Spielgruppen, den Schülerübungen im naturwissenschaftlichen Unterricht sowie Anschauungsunterricht auf Wandertagen und mehrtägigen Exkursionen gehörte die Schule zu den praktisch orientierten Reformschulen des Deutschen Reiches. Diese Traditionen werden bis heute gepflegt.